Sonntag, 3. September 2017

Wie aufregend!

Ausnahmsweise war ich einmal vorausschauend. Am Freitagabend beschloss ich, mir einen Schal zu stricken. Schals, die man kaufen kann, sind fast immer aus Wolle oder haben einen Wollanteil. Diese vertrage ich nicht auf der Haut. Deswegen liegt es nahe, sich selbst einen zu produzieren. Zum Glück verfüge ich einigermaßen über die DIY-Fähigkeiten. Die Tochter findet, einer der Vorteile anthroposophischer Schulen sei die Tatsache, dass man dort Handarbeit lerne. Ungläubiger Gesichtsausdruck, als ich ihr irgendwann einmal erklärte, Handarbeiten müssten nicht zwangsläufig mit Eurythmie einhergehen. In der schlechten alten Zeit sei man zwar nicht politisch korrekt erzogen worden, sei aber in jedem Bildungssystem in den Genuss mehr oder weniger profunder Näh-/Stopf-/Strick-/Häkel-Kenntnisse gekommen. Die größte Schwierigkeit bestand damals wahrscheinlich darin, seine selbstgefertigten, schiefen Topflappen nicht endgültig mit den allgegenwärtigen Negerküssen zu ruinieren. 
Vorausschauend war meine jüngste Strickentscheidung aus mehreren Gründen. Erstens naht im September zwangsläufig die blöde kalte Jahreszeit. Zweitens gilt es die Dunkelheit längerer Abende zu bestreiten. Und drittens trete ich demnächst wieder einmal eine Flugreise mit Umsteigen an. Jeder vernünftige Mensch verbrächte die Wartezeiten vermutlich mit Lesen. Neugierig wie ich bin kann ich mich jedoch nicht auf die Lektüre konzentrieren, wenn um mich herum so viele spannende Konversationen stattfinden. Handarbeiten sind für Menschen mit offenem Ohr viel besser geeignet. Improve your status without neglecting your eavesdropping. Es sei denn, man stopft gerade Schlüpper. Was ohnehin nicht so mein Ding ist. 
Ein Schal also. Mein Problem bestand darin, dass ich nicht wusste, wie viel Wolle (natürlich Baumwolle!) ich dafür benötigen würde. Es lag nahe, den Profi im Freundeskreis anzusprechen. Es entsponn sich auf meine Entscheidung gestern eine ausgiebige WhatsApp-Kommunikation über Nadelstärke, Lauflänge, Muster und Gewicht. Die Tochter hätte schon zu Beginn auf Sprachnachrichten umgestellt, aber ich bin so altmodisch und tippte demzufolge eifrig. Allerdings unterbrochen durch ein YouTube-Video - dass ich das nutze, hätte die Brut vielleicht wieder mit der Joghurtbecher-Strippe-Joghurtbecher-Mutter und ihren vorsintflutlichen Methoden versöhnt. Wer denkt, die neuen Medien lassen Menschen einsam vor ihren Displays zurück, irrt. Wir verabredeten uns in einem Café, um die Details zu Schal und Muster etc. zu besprechen. Mal was Neues: ein Date mit einem jungen Mann, um übers Stricken zu reden. Das von mir vorgeschlagene Café mag von manch' einem als Lesbenladen diskreditiert werden, es liegt in der Nähe, wir konnten gestern Nachmittag wunderbar in der Sonne sitzen und unsere Schals vergleichen. Seiner ist schon als solcher zu erkennen, meiner selbst mit viel Wohlwollen anhand der drei Reihen unter den Nadeln nicht. Ich rechne mit einer Fertigstellung kurz nach dem Berliner Flughafen. Was hoffentlich auch Herbst/Winter sein wird.
Als ob das alleine nicht Aufregung genug sei, lenkte mein Ohr am Nebentisch meine Aufmerksamkeit auf die Nachbarunterhaltung, die - das muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen - auch schlecht zu überhören war. Einer der Gäste vom Nebentisch wickelte sich von Zeit zu Zeit in eine Flagge mit dem St. Georgskreuz ein. Ich vermutete nicht, dass er sich damit in unserem Dorf einschleimen wollte. Es waren Engländer. Geschult durch die Lektionen des Sohnes meinte ich herauszuhören, dass sie aus Liverpool kämen. Nicht so schwer, da sie häufig Sachen wie "Luch 'ier!" statt "Look here!" sagten. Ich nahm mir ein Herz und sprach sie darauf an. Es stimmte, sie waren gleichzeitig hingerissen und verwundert, woran ich das denn gemerkt habe. Die Höflichkeit gebot, dass ich "am Akzent" antwortete. Sie blieben überrascht, denn so stark sei er doch gar nicht. Noch begeisterter waren sie, als sie erfuhren, wir seien erst kürzlich in ihrer Heimat gewesen. Ich erzählte von unserem Ausflug zum Anfield Stadion. Einen kurzen Moment drohte die gute Stimmung zu kippen, da eine Hälfte von ihnen "Evertonians" und die andere für den FC Liverpool war. Ein Handgemenge konnte zum Glück vermieden werden. Ich war etwas in Sorge, denn sie hatten schon ein paar Getränke und der Nasen- und Zahnstatus unter den männlichen Mitgliedern ließen auch nicht das Allerbeste vermuten. Es fand sich glücklicherweise der gemeinsame Nenner, dass Jürgen Klopp sympathisch sei. 
Ehe alle zehn Engländer in ihre Taxis stiegen, stellte ich fest, dass inmitten des Kreuzes auf der Flagge "McGrail" stand. Zuhause ergab meine vom Sohn angeleitete Internetrecherche ("Mama, du würdest selbst für Bilder in Wikipedia gucken!" - stimmt natürlich nicht!), dass wir neben dem amtierenden Bronzemedaillengewinner der Boxweltmeisterschaft im Bantam gesessen haben. Der - Wikipedia sei dank - auf den Namen Peter hört, gebürtig aus Liverpool kommt und auch der amtierende Europameister ist. So viel zum Lesbencafé. 

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